Kündigung wegen Strafanzeige des Arbeitnehmers gegen Vorgesetzten

BAG, Mitteilung vom 3. 7. 2003 – 50/03 (lexetius.com/2003,1073)

[1] Der Kläger war seit 1997 als Sozialarbeiter in einer der vom Beklagten betriebenen Sozialeinrichtungen tätig. Im März 2000 ließ er – ohne Nennung seines Namens – durch seinen jetzigen Prozeßbevollmächtigten gegen den Leiter der Einrichtung, seinen unmittelbaren örtlichen Vorgesetzten, eine Strafanzeige wegen des Verdachts der Veruntreuung von Geldern erstatten. Das Strafverfahren wurde später gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Nach Kenntnis von der Anzeige kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers fristlos, hilfsweise fristgemäß mit der Begründung, die unberechtigte Strafanzeige stelle einen Vertrauensbruch dar, der um so schwerer wiege, als der Kläger noch nicht einmal versucht habe, eine interne Klärung herbeizuführen; die Anzeige sei nur erfolgt, um dem Vorgesetzten zu schaden.
[2] Das Arbeitsgericht hat die außerordentliche Kündigung als unwirksam, die ordentliche Kündigung hingegen als wirksam angesehen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landesarbeitsgericht auch die Unwirksamkeit der ordentlichen Kündigung festgestellt.
[3] Die Revision des Beklagten hatte vor dem Zweiten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. In der Anzeige gegen seinen Arbeitgeber oder einen seiner Repräsentanten kann eine erhebliche Verletzung einer arbeitsvertraglichen Nebenpflicht durch den Arbeitnehmer liegen, die den betroffenen Arbeitgeber zu einer – hier allein noch zu beurteilenden – fristgemäßen Kündigung berechtigen kann. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn eine vom Arbeitnehmer veranlaßte Strafanzeige wissentlich unwahre oder leichtfertig falsche Angaben enthält oder wenn sie in Schädigungsabsicht bzw. aus Rache erfolgt. Je nach den Umständen kann dies auch der Fall sein, wenn der Arbeitnehmer nicht vorab eine innerbetriebliche Klärung versucht hat. Ein solcher Versuch kann dem Arbeitnehmer insbesondere bei Fehlverhalten anderer Betriebsangehöriger, das sich gegen den Arbeitgeber selbst richtet, zumutbar sein, wenn er bei objektiver Betrachtung erwarten kann, der von ihm informierte Arbeitgeber werde der Beschwerde nachgehen. In einem solchen Fall steht dem möglichen Vorrang einer innerbetrieblichen Klärung nicht die grundrechtlich geschützte Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte bei Erstattung einer Anzeige entgegen.
[4] Da die Vorinstanzen weder dem Motiv des Klägers für die Strafanzeige noch der Frage nachgegangen sind, ob dem Kläger ein Hinweis auf die behaupteten Vorfälle an den nächst höheren Vorgesetzten zumutbar war, hat der Senat den Rechtsstreit an das Landesarbeitsgericht zur weiteren Sachaufklärung und Entscheidung zurückverwiesen.
BAG, Urteil vom 3. 7. 2003 – 2 AZR 235/02; Hessisches LAG